Zwischen Komfort und Kontrolle

George Orwell hat im Jahr 1949 eine Welt beschrieben, die damals wie eine düstere Fantasie wirkte: eine Welt voller Überwachung, Kontrolle und Manipulation. Eine Welt, in der Wahrheit verschwindet und Sprache zur Waffe wird. Heute erkennen wir: Wir leben mitten in vielen dieser Entwicklungen. Wir tragen Überwachungskameras freiwillig in der Hosentasche, unsere Gespräche werden von Maschinen analysiert, Algorithmen entscheiden, was wir sehen – und politische Machtkämpfe werden mit Sprache geführt, die nicht aufklärt, sondern verschleiert.

Orwell hatte in vielem recht. Doch unsere Gegenwart ist komplexer – und gefährlicher – als er es voraussehen konnte. Denn wir verlieren Freiheit nicht nur unter Zwang, sondern oft freiwillig. Technologien sind so verlockend, dass wir sie nicht mehr missen wollen – auch wenn wir dafür Privatsphäre und Selbstbestimmung eintauschen.

Big Brother is watching you

Mit diesem Satz schuf Orwell das Bild totaler Überwachung. Dass dies keine Fiktion ist, zeigte schon die DDR. Allein das Stasi-Unterlagen-Archiv umfasst rund „111 Kilometer“ Akten – ein erschreckender Maßstab für systematische Kontrolle (Bundesarchiv, Stasi-Unterlagen-Archiv).

2013 enthüllte Edward Snowden das US-Programm PRISM. Laut den veröffentlichten Dokumenten erlaubt PRISM es Behörden, „Material einschließlich Suchverläufen, E-Mails, Dateiübertragungen und Live-Chats“ zu sammeln (The Guardian, 06.06.2013).

In China dokumentierte Human Rights Watch 2019, wie in Xinjiang digitale Systeme Menschen flächendeckend erfassen; die Behörden nutzten u. a. eine App für „illegale Massenüberwachung“ (Human Rights Watch, 02.05.2019).

Und das Social-Credit-/Blacklist-Regime zeigt reale Folgen: 2018 wurden Bürgerinnen und Bürger millionenfach an Flug- und Schnellzugreisen gehindert – 17,5 Millionen Flugticket-Sperren, 5,5 Millionen Bahn-Sperren (AP News, 22.02.2019).

Das Entscheidende heute: Überwachung fühlt sich selten wie Zwang an, sondern wie Komfort. Wir tragen Fitness-Tracker, lassen smarte Assistenten zuhören, teilen unseren Standort – und verdrängen, wer noch mithört. Big Brother ist kein einzelner Akteur mehr, sondern ein Geflecht aus Staaten, Konzernen und Geräten.

Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft

Im Zentrum von 1984 steht die Idee, dass Wahrheit gemacht wird. Winston Smith arbeitet im „Ministerium für Wahrheit“, wo Zeitungen umgeschrieben, Namen getilgt, Ereignisse neu gedeutet werden – bis die Vergangenheit neu erschaffen ist. Die Geschichte kennt Parallelen: In der Sowjetunion wurden unliebsame Personen aus Fotos und Dokumenten entfernt; ganze Biografien verschwanden.

Doppeldenk gibt es nicht nur in Diktaturen. 2017 sprach eine US-Präsidentenberaterin in einer TV-Debatte von „alternative facts“ – worauf der Moderator entgegnete: „Alternative Fakten sind keine Fakten; sie sind Falschbehauptungen“ (TIME, 2017). Solche Verschiebungen markieren, wie konkurrierende Realitäten politisch gesetzt werden.

Ein europäisches Beispiel: 2022 nahm die EU-Kommission unter „strengen Bedingungen“ Gas und Kernenergie in die Taxonomie nachhaltiger Aktivitäten auf – zwei Begriffe, die sich eigentlich widersprechen, nun aber offiziell nebeneinander stehen (Europäische Kommission, 02.02.2022).

Auch digitale Plattformen verstärken Wirklichkeitsblasen. Algorithmen zeigen uns, was wir ohnehin glauben wollen; zwei Nachbarn können so in völlig verschiedenen Realitäten leben. Wahrheit wird zur Frage der Reichweite – nicht der Wirklichkeit.

Neusprech – Sprache als Waffe

Orwell warnte: Politische Sprache sei oft dazu da, „Lügen wahrhaftig und Mord respektabel erscheinen zu lassen“. Wir sehen das an Euphemismen im Alltag: Restrukturierung statt Entlassung, Freisetzung statt Kündigung, Beitragsanpassung statt Gebührenerhöhung. Worte glätten harte Realitäten – und verschieben damit, was denkbar ist.

Ein aktuelles Feld ist die Sicherheitspolitik der Netze. In der EU wird seit 2022 über die sogenannte Chatkontrolle (CSAR) verhandelt. Die jüngste Ratsabstimmung am 12. September 2025 scheiterte; der Prozess geht weiter. Ein Faktencheck fasst zusammen: „Bis Parlament und Rat einen identischen Text beschließen, kann nichts in Kraft treten“ (euronews, 11.09.2025).

Parallel warnten mehr als 500 Kryptografie-Forschende, dass Client-Side-Scanning „neue nicht behebbare Risiken“ einführt und Verschlüsselung untergräbt (Computer Weekly, 11.09.2025).

Medien berichten, das Parlament könne zur Kompromisssuche drängen; Bürgerrechtsgruppen sprechen von massiver Massenüberwachungsgefahr – der Ausgang ist offen, der Konflikt grundrechtlich grundlegend (TechRadar, Sept 2025).

Animal Farm – Verrat der Ideale

„Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher.“ Revolutionen beginnen mit Idealen – und enden zu oft in Machtkartellen. Historisch sehen wir das in der russischen und der iranischen Revolution. Und selbst in Demokratien kippen Parteien mit Transparenz-, Erneuerungs-, Basisnähe-Parolen in Strukturen, in denen Posten wichtiger werden als Prinzipien.

Die Verbindung zu 1984 ist klar: Animal Farm erklärt, wie Macht an diesen Punkt kommt. 1984 zeigt, wie sie dort bleibt – mit Überwachung, Sprachlenkung und Doppeldenk. Deshalb brauchen wir Kontrolle über die Kontrolleure.

Transparenz – Anspruch und Wirklichkeit in Europa

Europa hat starke Zugangsrechte zu Dokumenten, doch in der Praxis hakt es. Die Europäische Ombudsfrau forderte schon 2016 mehr Offenheit in Trilog-Verhandlungen und schlug vor, sogenannte „Vier-Spalten-Dokumente“ proaktiv zu veröffentlichen (Europäische Ombudsfrau, 12.07.2016).

Positiv: Am 14. Mai 2025 stärkte das Gericht der EU das Recht auf Zugang zu Kommissionsdokumenten (T-36/23, NYT v Commission). Fachkommentare nennen das Urteil einen „eindeutigen Sieg“ für Transparenz (European Papers, 14.05.2025).

Aber: Gerade bei sicherheitspolitischen Digitalgesetzen werden zentrale Absprachen weiter in intransparenten Formaten getroffen – das erschwert demokratische Kontrolle (ClientEarth).

Krieg ist Frieden

Orwells berühmter Slogan meint: Ein permanenter Kriegszustand hält Menschen in Angst, lenkt von inneren Problemen ab und stabilisiert Macht. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 folgte in den USA der „Krieg gegen den Terror“. Der USA PATRIOT Act „erweiterte die Befugnisse zur Überwachung der eigenen Bürger erheblich“ und schwächte Kontrollen – mit weitreichenden Folgen für Telefon- und Internetüberwachung (American Civil Liberties Union).

Militaristische Metaphern wirken bis heute – nicht nur militärisch: Wir führen den „Krieg gegen Drogen“, den „Krieg gegen das Virus“ oder sogar den „Krieg gegen den Klimawandel“. Studien zeigen: Solche „War-Metaphern“ erhöhen das Bedrohungsgefühl und fördern die Akzeptanz von Ausnahme-Maßnahmen; sie strukturieren, wie wir Probleme sehen und Lösungen bewerten (Taylor & Francis Online).

Internationaler Blick: Großbritannien

Das britische Online Safety Act (seit 2023) schuf neue Pflichten für Plattformen – inklusive umstrittener Möglichkeiten, verschlüsselte Nachrichten zu scannen, „wenn technisch machbar“. Nach heftiger Kritik betonte die Regierung diese Einschränkung; die Debatte um Encrypted-Chats bleibt jedoch offen (GOV.UK).

Orwells Vermächtnis

Orwell schrieb 1984 nicht als Science Fiction, sondern als Warnung: eine Zukunft, in der Wahrheit biegsam wird, Sprache Denken einschränkt, Überwachung allgegenwärtig ist – und Macht das letzte Wort behält. Das Erschreckende: Viele Mechanismen sind längst Gegenwart. Sie kommen nicht in der Brutalität des Romans, sondern subtil – in Algorithmen, Gesetzen, euphemistischen Worten, in „Fortschritt“, der verkauft wird.

Die größte Gefahr ist nicht, dass wir eines Morgens in einem totalitären Regime aufwachen. Die Gefahr ist, dass wir Schritt für Schritt Dinge akzeptieren, weil sie bequem sind. Dass wir „Zensur“ als „Moderation“ bezeichnen, „Überwachung“ als „Optimierung“ – und Sicherheit wichtiger nehmen als Freiheit.

Was tun? Wachsam bleiben, Sprache prüfen, Quellen lesen, Kontrolle einfordern. Es gibt Erfolge – wie das Transparenz-Urteil vom Mai 2025 – aber auch neue Fronten, etwa die Chatkontrolle. Beides zeigt: Demokratie ist kein Zustand, sondern eine Tätigkeit (European Papers, 2025).

Freiheit stirbt nicht an einem Tag. Sie stirbt in kleinen Schritten – in Worten, in Gewohnheiten, in Gleichgültigkeit. Deshalb sind Bücher wie 1984 heute wichtiger denn je: Sie erinnern uns daran, dass wir eine Wahl haben. Oder, mit Orwell: „Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, den Leuten zu sagen, was sie nicht hören wollen.“

Quellen (Auswahl für Zitate und aktuelle Beispiele)
– The Guardian: „NSA Prism program taps in to user data…“ (06.06.2013).
– Human Rights Watch: „How Mass Surveillance Works in Xinjiang“ (02.05.2019).
– AP News: „China bars millions from travel for ‘social credit’ offenses“ (22.02.2019).
– Europäische Kommission: EU-Taxonomie – Aufnahme von Gas & Kernenergie unter Bedingungen (02.02.2022).
– TIME: „Kellyanne Conway… ‘Alternative Facts’“ (2017).
– American Civil Liberties Union (ACLU): „End Mass Surveillance Under the Patriot Act“ (o. D.).
– Europäische Ombudsfrau: Vorschläge für mehr Trilog-Transparenz (12.07.2016).
– European Papers: Analyse zu T-36/23 NYT v Commission (14.05.2025).
– Euronews Fact-Check: Stand der EU-Chatkontrolle (11.09.2025).
– ComputerWeekly: Offener Brief von 500+ Kryptograf:innen gegen Client-Side-Scanning (11.09.2025).
– TechRadar: Überblick zur Ratsabstimmung/CSAR (Sept 2025).
– Bundesarchiv: Stasi-Unterlagen-Archiv (Zahlen/Umfang).


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