ID2020 – Der stille Umbau unserer Freiheit
Seit Jahren wird unter dem Banner der Digitalisierung ein Projekt vorangetrieben, das in seiner Tragweite kaum jemand wirklich erfasst hat: die Einführung einer universellen digitalen Identität. Was als technologische Erleichterung verkauft wird – bequem, sicher, modern – ist in Wahrheit ein epochaler Umbau der Machtverhältnisse zwischen Staat, Wirtschaft und Bürger. Das Projekt ID2020 , flankiert von der europäischen eIDAS 2.0-Verordnung und der deutschen Digital Identity Wallet, zielt darauf ab, jedem Menschen eine digitale Identität zuzuordnen – eine Art digitaler Pass, der biometrische, finanzielle, gesundheitliche und soziale Daten in einem einzigen System zusammenführt. Die offizielle Erzählung spricht von Inklusion und Effizienz. Die tatsächliche Konsequenz ist jedoch eine neue, algorithmische Form der Unterwerfung. Wer das Grundgesetz kennt, erkennt den Widerspruch sofort. Denn die Würde des Menschen (Artikel 1 GG) ist unantastbar – und unvereinbar mit einer Welt, in der die Identität des Menschen von Algorithmen, Behörden und Konzernen verwaltet wird.
„Die Digitalisierung der Identität ist kein Fortschritt, wenn sie das Ich in eine Datei verwandelt.“
ID2020 – Was steckt hinter der digitalen Identität?
Befürworter von ID2020 sprechen von einem „revolutionären“ Ansatz: Alle Daten seien dezentral verschlüsselt, jeder Mensch bleibe Eigentümer seiner digitalen Identität.
Wie das World Economic Forum erklärt, soll die digitale Identität ID2020 „Vertrauen schaffen und globale Interoperabilität fördern“ – doch genau hier beginnt das Problem. Biometrische Merkmale – Gesicht, Iris, Fingerabdruck – sollen Fälschungen verhindern, die Blockchain soll Vertrauen schaffen. In der Praxis bedeutet dies: Wer künftig auf Gesundheitsdienste, Finanzsysteme oder Behördenportale zugreifen will, muss sich über eine einheitliche digitale Identität authentifizieren.
Doch was auf den ersten Blick nach praktischer Vereinfachung klingt, schafft eine vollständige Verdatung des Individuums. In der ID2020-Struktur werden nicht nur Stammdaten, sondern auch Gesundheitsinformationen, Bildungsnachweise, Steuerdaten, Aufenthaltsorte und Kommunikationsprofile miteinander verknüpft. Das ist nicht bloß Digitalisierung, das ist die technische Totalerfassung des Menschen. Technik wird hier zur moralischen Rechtfertigung für Kontrolle – denn die „Sicherheit“ des Systems wird erkauft durch die vollständige Aufhebung der Privatsphäre. Wo alles registriert, gespeichert und analysiert wird, gibt es kein Vergessen mehr – und ohne Vergessen keine Freiheit.
Weiterführend: Die verlorene Freiheit im Klassenzimmer
ID 2020 – Erfasste Daten und Struktur der digitalen Identität
ID2020 verfolgt eine globale, einheitliche digitale Identität. Sie bildet persönliche, biometrische, finanzielle, soziale und technische Informationen in einer gemeinsamen Struktur ab. Die Speicherung soll – je nach Implementierung – verschlüsselt und (teil-)dezentral erfolgen, mit dauerhafter Nachvollziehbarkeit von Zugriffs- und Änderungsereignissen.
A. Biometrische Daten: Gesichtserkennung, Fingerabdrücke, Iris-Scans, Venenmuster, Stimmprofil, DNA-Marker. Beispiel: Kameras im öffentlichen Raum oder an Flughäfen gleichen dein Gesicht automatisch mit zentralen Datenbanken ab. Konsequenz: Bewegungen, Aufenthalte und sogar Emotionen können in Echtzeit verfolgt werden. Fehlidentifikationen oder Manipulationen treffen nicht nur Kriminelle, sondern jeden. Die Rückkehr in die Anonymität ist unmöglich.
B. Persönliche Stammdaten: Name, Geburtsdatum, Staatsangehörigkeit, Adresse, Familienstand, Ausweisnummern, digitale Signatur. Beispiel: Behörden und Versicherungen greifen über die ID auf dieselben Stammdaten zu – ein einziger Fehler oder Missbrauch multipliziert sich in alle Systeme. Konsequenz: Falscheinträge können dein Leben blockieren – vom Mietvertrag bis zur Kontoeröffnung. Eine zentrale digitale Identität schafft eine einzige Schwachstelle für Identitätsdiebstahl und soziale Ausschlüsse.
C. Bildungs- und Berufsdaten: Abschlüsse, Zertifikate, Arbeitgeberhistorie, Arbeitsverträge. Beispiel: Künftige Bewerbungen oder Weiterbildungen laufen ausschließlich über ID-Verifikationen. Konsequenz: Fehlerhafte oder unvollständige Datensätze können Karrieren verhindern. Wenn Bildungseinrichtungen oder Arbeitgeber Zugriff auf Lebensverläufe in Echtzeit erhalten, wird das Vergessen – und damit eine zweite Chance – abgeschafft.
D. Gesundheitsdaten: Impfstatus, Krankheitsverlauf, genetische Prädispositionen, Versicherungsstatus. Beispiel: Versicherungen oder Arbeitgeber werten Gesundheitsdaten algorithmisch aus. Konsequenz: Zugang zu Krediten, Versicherungen oder Arbeitsverhältnissen kann von Gesundheitsprofilen abhängen. Krankheitsrisiken werden zu ökonomischen Risiken – und wer krank ist, verliert Teilhabe.
E. Finanz- und Steuerdaten: Bankdaten, Steuer-ID, Einkommen, Kredithistorie, Eigentumsnachweise. Beispiel: Ein digitales Wallet verknüpft deine Identität direkt mit Zahlungsströmen. Konsequenz: Der Staat oder Plattformbetreiber kann Zahlungen überwachen oder sperren – etwa bei „verdächtigem Verhalten“. Finanzielle Freiheit existiert nur noch, solange du konform bleibst. Das Konto wird zum Disziplinierungsinstrument.
F. Bewegungs- und Reiseinformationen: Reisepass-, Visa-, Aufenthalts- und Buchungsdaten. Beispiel: Jede Bahnfahrt, jeder Flug, jede Hotelbuchung wird über deine ID abgewickelt. Konsequenz: Bewegungsprofile entstehen automatisch. Politisch missliebige Personen können leichter überwacht oder an Reisen gehindert werden – eine moderne Form der digitalen Grenzkontrolle im Innern.
G. Soziale und digitale Profile: Telefonnummern, E-Mail, Social-Media-Konten, Kommunikationshistorie. Beispiel: Plattformen verknüpfen ID und Account, um Fake-Profile zu verhindern. Konsequenz: Anonymität im Netz verschwindet. Kritik an Regierung oder Konzernen wird nachvollziehbar, Angst ersetzt Meinungsfreiheit. Der digitale Pranger wird technisch möglich.
H. Technische Metadaten: Geräte-IDs, IP-Adressen, Login-Zeitpunkte, Standortdaten, Zertifikate, Tokens. Beispiel: Jedes Einloggen in ein WLAN, jede App-Nutzung, jede Bewegung deines Smartphones hinterlässt digitale Spuren. Konsequenz: Dein Alltag wird kartografiert – wann du arbeitest, schläfst, dich bewegst oder kommunizierst. Diese Daten erlauben präzise Verhaltensprofile, die von Versicherern, Arbeitgebern oder Behörden ausgewertet werden können.
ID2020 Konsequenz: Die Verknüpfung all dieser Datenkategorien schafft die Infrastruktur für digitale Steuerung und soziale Konditionierung. Wer Identität, Zahlung, Mobilität, Kommunikation und Gesundheitsnachweise an eine einzige ID koppelt, liefert die technische Grundlage für eine Welt, in der Zugehörigkeit nicht mehr durch Recht, sondern durch Systemzugang definiert wird. Das ist nicht Service – das ist Infrastruktur der Disziplinierung.
ID2020: Risiken und Kritik
Die politische Realität – Von der Bequemlichkeit zur Kontrolle
Europa verkauft die eIDAS 2.0-Verordnung als „Bürgerprojekt“. Jeder EU-Bürger soll bis 2030 eine European Digital Identity Wallet erhalten – Ausweis, Führerschein, Gesundheitsdaten, Zeugnisse, Bankverbindungen – die gesamte Lebensbiografie in einer App. EU-Kommission: European Digital Identity. Ursula von der Leyen verspricht, jeder solle „selbst bestimmen“, welche Daten geteilt werden. Doch politische Erfahrung zeigt: Freiwilligkeit ist die Einstiegsdroge der Pflicht. Schon heute werden nationale Kampagnen gestartet, um Bürger durch Nudging zur Nutzung der ID-Wallet zu bringen. Was heute freiwillig scheint, wird morgen Voraussetzung für Reisen, Bankgeschäfte oder Steuererklärungen. Kontrollinfrastruktur entsteht nie auf einen Schlag, sondern durch schleichende Gewöhnung.
ID2020 Verfassungsrechtliche Analyse – Das Ende der informationellen Selbstbestimmung
Das Bundesverfassungsgericht hat 1983 im Volkszählungsurteil das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung begründet: Der Einzelne muss entscheiden können, wer was wann über ihn weiß. Eine Ordnung, in der abweichendes Verhalten „dauernd registriert“ wird, ist mit dem Grundgesetz unvereinbar. Die Architektur moderner ID-Systeme läuft diesem Prinzip entgegen. Durch die Kopplung von Gesundheits-, Finanz-, Kommunikations- und Bewegungsdaten entsteht ein personales Master-Profil, das Verhalten, Kreditwürdigkeit und politische Präferenzen prognostizieren kann. Damit werden Bürger berechenbar – und damit kontrollierbar. Die EU-Regelung eIDAS 2.0 kollidiert zudem mit der DSGVO: Auch European Digital Rights (EDRi) sieht in der geplanten EUDI-Wallet erhebliche Risiken für Datenschutz, informationelle Selbstbestimmung und die Trennung staatlicher und privater Datenräume.Unveränderlichkeit (z. B. bei Blockchain-basierter Speicherung) widerspricht dem Recht auf Löschung und Berichtigung. Selbst Datenschutzbehörden wie die französische CNIL warnen vor der technischen Unmöglichkeit echter Löschung. Betroffen sind zentrale Grundrechte: Art. 1 (Menschenwürde), Art. 2 (freie Entfaltung), Art. 5 (Meinungsfreiheit), Art. 10 (Fernmeldegeheimnis), Art. 11 (Freizügigkeit) und Art. 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung). Das ist kein Kompatibilitätsproblem – das ist ein Systembruch mit dem Kern des Grundgesetzes.
Gesellschaftliche und ethische Dimension – Vom Bürger zum Datensatz
Wer die Identitätsinfrastruktur kontrolliert, kontrolliert den Zugang zum Leben. So entsteht eine Gatekeeper-Demokratie: formal frei, faktisch konditional. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie EDRi und epicenter.works warnen vor einer Wallet, die über-identifiziert und Tracking-Risiken verstärkt. Wenn digitale Identität, bargeldlose Zahlung und algorithmische Bewertung zusammenwirken, lassen sich Verhalten und Meinung sanktionieren – ohne Richter, ohne Debatte. Parallel wächst der politische Drang zur ID-Pflicht im Netz: Klarnamen-Gesetze, Identitätsverifikationen und Altersnachweise sind nur die Vorstufen zu ID-gebundenen Kommunikationssystemen. Damit droht das Ende der Anonymität – und mit ihr der Freiheit, ohne Angst zu denken.Damit droht das Ende der Anonymität – und mit ihr der Freiheit, ohne Angst zu denken.
Schon 2021 warnten Experten in The Guardian, dass digitale Identitäten – falsch umgesetzt – die Grenze zwischen Komfort und Kontrolle endgültig verwischen könnten.
Weiterführend: Das Ende des Fragens
Internationale Vergleiche – Vom Labor der Kontrolle zur Blaupause des Westens
ID2020 präsentiert sich als humanitäres Projekt – doch Pilotprogramme in Bangladesch, im Flüchtlings- und Gesundheitsbereich zeigen die Richtung: biometrische Erfassung, transnationale Datenflüsse, algorithmische Risikobewertung. Das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) berichtete schon 2020:
„Hier sollen alle Informationen über den Einzelnen zusammenfließen – Ausbildung, Impfstatus, Finanzdaten, Social-Media-Accounts, Smartphone-Daten.“
China zeigt, wohin das führen kann: Punktesysteme, die Wohlverhalten belohnen und Abweichung bestrafen. Europa importiert kein Gesetz, sondern die Logik – verpackt in Komfort und Effizienz.
Philosophie der Freiheit – Technik ohne Vertrauen
Karl Popper warnte: Wer absolute Sicherheit will, bezahlt mit Freiheit. Digitale Identität erzeugt Verifikations-Gewissheit – aber zerstört Vertrauen. Das Nichtwissen des Anderen ist der Nährboden von Dissens und Kreativität. Wenn Identifizierung zum Standard wird, wird Abweichung zur Risikoposition. Menschen passen sich an, bevor sie sanktioniert werden. So entsteht Konformität ohne Zwang – das ist die leise Tyrannei des Digitalen.
Die ethische Falle – Der verwaltete Mensch
Technik ist nie neutral. Sie formatiert Gesellschaft. Eine universelle eID macht aus Bürgern verwaltbare Datensätze. Was als Service beginnt, endet in Steuerung. Komfort, Gewöhnung, Abhängigkeit – der Dreischritt digitaler Disziplinierung. Eine Demokratie, die das Unvorhersehbare (Fehler, Brüche, Anonymität) technisch wegoptimiert, amputiert ihren pluralistischen Kern.
ID2020 – Die Freiheit stirbt im Datenrausch
ID2020 und eIDAS 2.0 sind kein Verwaltungsupdate, sondern der Schlüssel zu einem Systemwechsel: von Rechten aus Menschenwürde zu Rechten aus Login-Berechtigung. Wenn Identität, Zahlung, Mobilität und Kommunikation an ein technisches Ident-Substrat gebunden werden, lösen sich Freiheitsrechte praktisch in Zugangsrechte auf – widerrufbar, konditional, profilabhängig.
„Freiheit ist die Bedingung des politischen Handelns.“ – Hannah Arendt
Wer sie verteidigen will, muss vor der Infrastruktur kämpfen – nicht nach ihrer Einführung.


Schreibe einen Kommentar