Das 28. Regime im Kontext von Macht und Markt

Während Europa über Krieg, Energiepreise und Migration diskutiert, plant die EU-Kommission ein optionales „28. Regime“: ein EU-weit einheitlicher Rechtsrahmen, dem Unternehmen freiwillig beitreten können – jenseits der 27 nationalen Systeme. Offiziell soll das Gründungen erleichtern und Skalierung beschleunigen. In der Sache steht hier ein Machtprojekt im Raum: ein Parallelrecht für kapitalstarke Akteure, das nationale Schutzstandards unter Druck setzt und die ökonomische Ordnung zugunsten von Konzernen neu austariert. Die Ankündigung läuft seit Anfang 2025, eine Vorlage wird für 2026 vorbereitet. Ursula von der Leyen verknüpfte das Vorhaben ausdrücklich mit der „Entflechtung“ der 27 Rechtsordnungen – inklusive Verweisen auf Gesellschaftsrecht, Insolvenz, Arbeit und Steuern.
Was das 28. Regime wirklich bedeutet
Auf dem Papier ist das 28. Regime „nur“ eine Option. In der Praxis ist Optionalität die Eintrittskarte ins Forum-Shopping: Unternehmen wählen den günstigsten Rechtsraum und verschieben Kosten-, Haftungs- und Mitbestimmungspflichten dorthin, wo sie am wenigsten stören. Genau dafür werben große Industrieverbände wie BusinessEurope. Gefordert wird ein breites, nutzerfreundliches Statut, das über die bloße Registrierung hinausgeht – modular erweiterbar bis in Governance-, Steuer- und Insolvenzfragen, mit dem Versprechen digitaler One-Stop-Shop-Prozesse. Das ist keine Fußnote, sondern eine neue Rechtsarchitektur für Kapitalmobilität.
Die Architektur der Einflussnahme
Der politische Unterbau ist bekannt: das Wettbewerbsfähigkeits-Narrativ und der Draghi-Bericht vom Sommer 2023. Er fordert tiefere Binnenmarkt-Integration, vereinheitlichte Rahmen und zentrale Hebel gegen die Produktivitätsflaute. „A strong Single Market is essential for a strong Europe“ (Mario Draghi, 2023). Brücken in die Praxis sind Vorschläge zu harmonisierten Unternehmensrahmen, vereinfachter Kapitalmobilität und koordinierten Regeln. Das 28. Regime wäre der logische, aber riskante Vollzug dieser Linie – Integration durch Parallelrecht, nicht durch das mühsame Anheben nationaler Standards.
Warum das 28. Regime den freien Markt verzerrt
Konzerninteressen dominieren immer stärker die EU-Politik – unter dem Deckmantel von „Wettbewerbsfähigkeit“ und Wachstum. Tatsächlich schlagen mächtige Lobbyverbände vor, Steuern zu senken, Subventionen auszuweiten und bestehende Schutzvorschriften zu lockern. Laut LobbyControl wird unter dem Schlagwort „Wettbewerbsfähigkeit“ eine Deregulierung zugunsten der Großkonzerne gefordert: Man spricht hier von einem „Freibrief für Monopolmacht“. Konkret bedeutet der Ruf nach mehr Wettbewerbsfähigkeit aus Sicht der Industrie „niedrigere Steuern, mehr staatliche Beihilfen und weniger Regeln“ für Unternehmen – zulasten von Umwelt-, Arbeitnehmer- und Verbraucherschutz lobbycontrol.de. Das Resultat wäre weniger echter Wettbewerb und mehr Marktmacht für die größten Player.
- Lobbyismus statt Gemeinwohl: In Brüssel und Berlin bestimmt die Wirtschaft über die Agenda. Rund 12.000 Lobbyorganisationen tummeln sich in der EU-Hauptstadt – mehr als die Hälfte davon vertritt ausschließlich Unternehmensinteressen awblog.at. Konzerne, Finanzindustrie und Wirtschaftsverbände dominieren damit die politische Bühne Europas. In der Konsequenz können sie verbraucher- und umweltfreundliche Gesetzesinitiativen immer wieder verwässern oder verhindern: Kürzlich etwa wurden Agrarumweltauflagen zurückgezogen und die Einführung des nutri-Score von der Lebensmittelindustrie blockiert awblog.at. Selbst geplante Maßnahmen gegen neue Gentechnik scheitern an diesem Einfluss awblog.at. Teilweise agieren auch EU-Mitgliedstaaten im Sinne der Konzerne – Österreich etwa blockierte das europäische Lieferkettengesetz, um heimische Großunternehmen zu schonen awblog.at.
- Politik als Erfüllungsgehilfe: Viele Politiker haben sich offen für Lobbyforderungen stark gemacht. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verpflichtete sich unter Druck der Wirtschaftsvertreter, Unternehmen nicht durch neue Umweltauflagen „zu belasten“ lobbycontrol.de. Konservative Fraktionen im EU-Parlament setzten für 2022 gar ein „Bürokratie-Moratorium“ durch und forderten die Verschiebung wichtiger Green-Deal-Projekte im Namen der Entlastung der Wirtschaft lobbycontrol.de. Überall lassen sich Vertreter der Regierungen und Parlamente einspannen: Sie schieben Gesetze auf, lockern Regeln oder verschieben Reformen, sobald die Lobbyisten Alarm schlagen. Auf EU-Ebene brachte 2023 ein Beraterpapier sogar einen „Wettbewerbsfähigkeits-Check“ ins Gespräch, um geplante Regelungen vorab auf ihre Belästigung der Wirtschaft abzuklopfen lobbycontrol.de.
- „Neue Freiheit“ für Konzerne – zulasten von Mitbestimmung: Das aktuelles Beispiel, das geplante „28. Regime“ der EU – ein einheitliches, EU-weites Regelwerk für (angeblich) „innovative“ Unternehmen. Offiziell soll dies Gründung und Wachstum im Binnenmarkt vereinfachend ihk.de akeuropa.eu. Die Gewerkschaftsseite warnt vor massiven Verschlechterungen: Ein optionales EU-Regelwerk könnte wichtige nationale Schutzstandards unterlaufen – etwa Arbeitsrechte und Mitbestimmung. Der EU-Innovationsbeauftragte René Repasi weist darauf hin, dass das neue Unternehmensrecht als EU-Richtlinie ja ohnehin nationales Arbeits- und Steuerrecht berücksichtigen muss. Trotzdem warnen Gewerkschafter, dass das 28. Regime Praktiken ähnlich der bereits bestehenden „Europäischen Gesellschaft (SE)“ wieder möglich macht: Nach Einführung der SE gingen Arbeitnehmerbeteiligung und Mitbestimmung „eindringlich“ zurück akeuropa.eu. Der Europäische Gewerkschaftsbund sieht in allen Vorschlägen zum 28. Regime „die große Gefahr“, dass Mitbestimmungs- und Gewerkschaftsrechte systematisch umgangen werden akeuropa.eu. Mit anderen Worten: Hier wird im Namen der EU-Harmonisierung massiv Druck auf Sozialstandards ausgeübt.
Einflussreiche Konzernlobbys treiben das 28. Regime mit voran: So zeigte das Corporate Europe Observatory, dass eine von Start-up-Lobbyisten formulierte „EU-Innovationsplattform“ (EU-INC) den Diskurs zur Neuregelung maßgeblich prägte akeuropa.eu. In der Folge jubelten Wirtschaftsverbände wie BusinessEurope und der deutsche BDI, die Politik solle doch bitteschön „Regulierungs-Atempause“ gewähren lobbycontrol.de. Ihren Vorstellungen entsprechend schlägt der Parlamentarier Repasi nun vor, das 28. Regime per Richtlinie einzuführen – unter Ausschluss wichtiger Arbeitnehmerrechte. Das bedeutet: Obwohl offiziell von „innovativem Unternehmertum“ gesprochen wird, könnte das 28. Regime eine Einladung an Konzerne sein, nationale Hürden zu umgehen.
Weiterführend: https://freiheitskompass.info/deutschlands-verwalteter-niedergang/
Arbeits-, Mitbestimmungs- und Sozialstandards unter Druck
Gewerkschaftsnahe Forschungsstellen wie das ETUI (European Trade Union Institute) warnen vor einem 28. Regime, das Mitbestimmungsschwellen anhebt oder Informations-/Konsultationsrechte ausdünnt. Die Kosten würden zulasten der Beschäftigten verschoben; Unterbietungswettbewerb wäre programmiert (Quelle: https://www.etui.org/publications/briefing-papers/corporate-governance-europe-crossroads). In der Praxis droht die Ersetzung gesicherter Rechte durch vage Belegschaftsbeteiligungs-Modelle, die in schnell wachsenden Start-up-Strukturen oft ins Leere laufen. Das Ergebnis wäre Sozialdumping als Skalierungsmodell – legitimiert durch eine EU-Option.
Steuer- und Insolvenzarchitektur als Arbitrage-Hebel
Wo Recht zur Wahlleistung wird, werden Steuer- und Insolvenzregeln zu strategischen Stellschrauben. Ein statutarisches EU-Regime mit digitaler Gründung, einheitlichen Identitäten und zentralen Registern beschleunigt nicht nur Gründungen; es erleichtert auch Struktur- und Standortwechsel. Wenn Streitschlichtung, Haftung, Sanierung oder Verlustverrechnung günstiger kalibriert sind, wandert Wertschöpfung in die Parallelordnung. Ein Binnenmarkt, der Rechtsmobilität belohnt, untergräbt die lokale Steuerbasis – die Finanzierung des Gemeinwesens erodiert, während Cashflows mobil bleiben. Laut einer Studie der Universität Leiden besteht ein „erhöhtes Risiko steuerlicher Arbitrage“ (Quelle: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4567893).
Wettbewerbsverzerrung – Zwei Klassen von Unternehmen
Kapitalstarke Start-ups im Vorteil
Konzernfinanzierte Start-ups verfügen über das Kapital, juristische Expertise und die Netzwerke, um das 28. Regime rasch zu adaptieren.
Sie profitieren von vereinfachten Vorschriften, steuerlichen Erleichterungen und einer europaweiten Rechtsstruktur – während der klassische Mittelstand, der lokal Steuern zahlt und Arbeitsplätze schafft, weiterhin die volle nationale Last trägt.
So entsteht ein Zwei-Klassen-Markt, in dem die Mobilität des Kapitals über die Fairness des Wettbewerbs entscheidet.
Konsequenzen für den Mittelstand
Nach offizieller Lesart handelt es sich bei 28. Regime um ein optionales, EU-weites Regelwerk – freiwillig, harmonisierend, modern.
Doch optional heißt in der Praxis: Wer über Geld, Rechtsberater und politische Zugänge verfügt, kann dieses neue Rechtssystem sofort nutzen – und damit unter günstigeren Bedingungen arbeiten als alle anderen.
Das ist der Beginn einer europäischen Parallelordnung für Konzerne, während sich kleine und mittlere Unternehmen weiterhin durch den Dschungel nationaler Gesetze kämpfen.
Diese Dynamik ist keine Theorie, sondern eine Prognose mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit. Konzentrationseffekte nehmen zu, weil kapitalstarke Player regulatorische Reibung minimieren. Beschaffung, Pricing und Talentakquise folgen der Skalenlogik der Parallelordnung; Löhne und Arbeitsbedingungen geraten unter Druck, den lokal gebundene Anbieter kaum kompensieren können. Mittelständler verlieren Marktanteile nicht wegen schlechterer Produkte, sondern wegen asymmetrischer Regimekosten. Das schwächt Investitionsfähigkeit, Innovationsbreite und regionale Resilienz. Die Realökonomie wird ausgedünnt, die Abhängigkeit von wenigen Plattform-Konzernen größer. Politisch wird dies als Wachstumschance gerahmt – tatsächlich ist die Einheitsordnung optional und damit selektiv vorteilhaft.
Weiterführend: Deutschland im industriellen Ausnahmezustand
Politik als Exekutive wirtschaftlicher Strategien
Gesetzgebung entsteht zunehmend in Netzwerken aus Verbänden, Kanzleien, Thinktanks und Kommissionsdiensten. Das 28. Regime ist ein Paradebeispiel für Policy-Design unter Lobbydominanz: Verbände liefern Positionspapiere, fordern standardisierte Finanzinstrumente, EU-SAFE-Äquivalente und investorenfreundliche Module – „Kapitalfluss beschleunigen“ ist das Leitmotiv. Regulierung wird so vom Schutz- zum Wachstumsinstrument – allerdings primär für Akteure, die skalen- und kapitalfähig sind.
„Europa der Märkte“ statt „Europa der Bürger“
Parallel lässt das Europäische Parlament Gutachten erarbeiten: digitale Register, supranationale Rechtsformen, modulare Governance – alles unter dem Banner der Fragmentierungsbekämpfung. Selbst dort wird eingeräumt, dass Umgehungsrisiken bei Steuer, Arbeit und Gläubigerschutz aktiv verhindert werden müssen. Das Eingeständnis ist bemerkenswert: Wer Risiken verhindern muss, erkennt an, dass sie im Design angelegt sind. Wenn Risikovermeidung nicht Lenkungsziel, sondern Marketingflanke ist, kippt der Binnenmarkt in ein Auswahlmenü für Privilegierte.
Das große Bild: Von Regulierung zur Kapitalordnung
Seit den 1990ern läuft europäische Wirtschaftspolitik entlang eines Liberalisierungspfads: Binnenmarkt vollenden, Kapital mobilisieren, Reibung minimieren. Der Wettbewerbsimperativ rahmt diese Logik. Die Umsetzung über ein optionales EU-Statut verankert sie institutionell: Recht wird zum Standortfaktor, nicht mehr zum demokratisch gesetzten Rahmen. Wer es zahlen, strukturieren und wechseln kann, wählt es – der Rest bleibt zurück. Das ist keine Modernisierung des Marktes, sondern seine Umcodierung zugunsten von Marktmacht.
Diese Machtkonzentration hat zudem direkte politische Konsequenzen: Die untersuchten Konzerne gaben 2022 allein in der EU 36,9 Mio. Euro für Lobbying aus taz.de. Ihre durchgestylten Interessenvertreter infiltrieren Parlamente und Behörden. Wie der Global-Justice-Now-Aktivist Nick Dearden zynisch konstatiert, haben „diese Raubritter unsere Demokratie unterwandert“: Sie entscheiden, welche Lebensmittel wir essen, welche Medikamente uns verschrieben werden und welche Informationen wir erhalten taz.de. Das klingt drastisch, doch es spiegelt wider, dass fundamentale Politikfelder von paar hunderten Großkonzernen geprägt werden, nicht vom Gemeinwohl.
Langfristig ist dies Gift für den europäischen Wirtschaftsraum: Echte Marktwirtschaft lebt von Wettbewerb, Vielfalt und Chancengleichheit. Wenn Politik die Spielregeln zugunsten einiger weniger Großmächte verzerrt, entstehen «katastrophale Konsequenzen»: Innovative, kleinere und mittlere Unternehmen kommen kaum hinterher, unsere Märkte verarmen, Preiskämpfe entfallen. Außerdem leidet das Vertrauen der Bürger in Demokratie und Rechtsstaat – schließlich entscheidet hier nicht die Mehrheit der Wähler, sondern ein verborgener Einigungsprozess der Eliten.
Fazit
Das 28. Regime präsentiert sich als Abkürzung durch den Dschungel nationaler Regeln. Tatsächlich öffnet es einen Expressweg für Konzern- und Eliteninteressen – mit planbaren Effekten: Unterbietungsdruck bei Arbeit, Arbitrage bei Steuern und Insolvenz, Konzentration von Marktmacht, Erosion der lokalen Steuerbasis, schleichender Funktionsverlust des Mittelstands. Wer die Regeln wählen kann, gewinnt nicht nur Wettbewerb, sondern definiert ihn neu. Zurück bleibt ein Europa, das seine demokratische Steuerung an eine Parallelordnung auslagert – eine Ordnung, in der das Recht dem Kapital folgt, nicht dem Gemeinwohl.
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