Immer mehr Menschen sind von Gerichtsurteilen irritiert, weil sie diese als unverhältnismäßig oder ungerecht empfinden. Das verstärkt den Eindruck einer schwindenden Rechtssicherheit und stellt ein wachsendes gesellschaftliches Problem dar. Ein Grund dafür könnte sein, dass Gerichte ihre Möglichkeiten, Urteile nach „Recht und Gesetz“ zu fällen, nicht in ausreichendem Maß nutzen. Der folgende Beitrag untersucht das Zusammenspiel von Recht und Gesetz und verdeutlicht es anhand praktischer Beispiele.
Zusammenspiel von Recht und Gesetz
Urteile müssen sowohl nach geltendem Gesetz als auch nach übergeordnetem Recht gefällt werden. Gesetze liefern klare, kodifizierte Regeln, wie etwa das Strafgesetzbuch (StGB) oder das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB).
Das „Recht“ hingegen ist mehr als bloße Gesetzestreue. Es umfasst die übergeordneten Prinzipien von Gerechtigkeit, Fairness, Treu und Glauben (§ 242 BGB), Verhältnismäßigkeit und den Schutz der Menschenwürde (Art. 1 GG). Diese Prinzipien sind nicht immer im Gesetzestext ausgeschrieben, sie sind aber verbindlich für jedes Urteil. Sie wirken wie ein Korrektiv, das verhindern soll, dass aus der reinen Anwendung von Paragrafen Unrecht wird.
Schon Gustav Radbruch betonte nach 1945, dass ein Gesetz, das in extremem Maße ungerecht ist, nicht mehr als Recht gelten kann. Gesetz ohne Recht führt zwangsläufig zu Unrecht.¹
Beispiel: Gesetz versus Recht
Ein Eigentümer darf nach dem Gesetz jede Person von seinem Grundstück verweisen. Doch das Recht verlangt, dass er diese Befugnis nicht willkürlich ausübt, sondern im Rahmen von Treu und Glauben. So darf ein Vermieter nicht mitten in der Nacht ohne Grund seinen Mieter vor die Tür setzen, nur weil er Eigentümer ist. Das Gesetz gibt ihm die Macht – das Recht zwingt ihn, sie gerecht anzuwenden.
Oder anders gesagt: Gesetz ist die Regel, Recht ist der Maßstab ihrer gerechten Anwendung.
Beispiele aus der Praxis
Pandemie-Maßnahmen: Während der COVID-19-Pandemie stellten Ärzte Atteste aus, die Patienten von der Maskenpflicht befreiten. Obwohl Verordnungen klare Vorschriften machten, war es Aufgabe der Gerichte, neben dem Wortlaut auch Recht anzuwenden: Verhältnismäßigkeit, klare Beweisführung und keine überzogenen Anforderungen an Atteste. Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit der „Bundesnotbremse“ betont, dass jede Maßnahme einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegt.²
Wichtig ist: „Ohne Untersuchung = automatisch falsch“ ist nicht zwingend. Höhere Anforderungen an Atteste durften nicht einfach eingeführt werden. So stellte das OLG Karlsruhe klar, dass an Maskenbefreiungs-Atteste keine gesteigerten Anforderungen gestellt werden dürfen.³ In mehreren Verfahren kam es deshalb auch zu Freisprüchen: Ein Bremerhavener Arzt wurde 2023 vom Amtsgericht freigesprochen;⁴ in Hechingen hob die Berufungsinstanz 2025 eine Verurteilung auf und sprach den Arzt frei.⁵
Damit gilt: Hätten Richter konsequent Recht angewandt und nicht nur den Verordnungstext, hätten (und haben) sie in Fällen sogenannter „falscher Maskenatteste“ auch Freisprüche ausgesprochen – immer dann, wenn die Unrichtigkeit des Attests nicht nachweisbar war oder wenn Behörden und Gerichte überspannte Anforderungen stellten.
Familienrecht: Bei Sorgerechtsentscheidungen zählt letztlich nicht der formale Anspruch, sondern das Kindeswohl. Ein Elternteil, der über lange Zeit keinen Kontakt zum Kind hatte, kann trotz gesetzlicher Position ausgeschlossen werden – weil das Recht das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt stellt.
Arbeitsrecht: Auch im Arbeitsrecht gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das Bundesarbeitsgericht hat klargestellt, dass Kündigungen nur als letztes Mittel zulässig sind. In vielen Fällen ist eine Abmahnung das angemessenere Mittel, wenn die Gesamtleistung und Loyalität des Arbeitnehmers berücksichtigt werden.⁶
Diese Beispiele verdeutlichen: Gerechtigkeit entsteht erst dann, wenn Gesetz und Recht zusammengedacht werden.
Ungleiche Strafzumessung
Ein weiteres Problem ist die ungleiche Strafzumessung. Immer wieder sorgen Fälle für Aufsehen, in denen ausländische Straftäter mildere Strafen erhalten als deutsche Täter bei vergleichbaren Delikten. So wurde ein afghanischer Asylbewerber, der 2018 einen Mann schwer verletzte, zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt. Ein deutscher Jugendlicher erhielt für ein ähnliches Vergehen vier Jahre Haft.
Solche Unterschiede lassen Zweifel an der Gleichbehandlung aufkommen. Juristisch erklärt sich dies damit, dass nach § 46 StGB immer auch individuelle Faktoren wie Alter, Reife oder soziale Situation berücksichtigt werden. Insbesondere das Jugendgerichtsgesetz (JGG) betont den Erziehungsgedanken und erlaubt daher mildere Urteile.
Doch genau hier liegt das Problem: Wenn die Gründe für unterschiedliche Strafmaße nicht verständlich erklärt werden, entsteht in der Öffentlichkeit das Gefühl einer ungerechten Justiz. Das Vertrauen in den Rechtsstaat sinkt.
Fazit
Gesetz ist die formelle Grundlage des Rechtssystems, Recht sind die übergeordneten Prinzipien der Gerechtigkeit. Beide müssen zusammenwirken, um gerechte Urteile zu gewährleisten.
Um Vertrauen zurückzugewinnen, braucht es:
- konsequente Verhältnismäßigkeitsprüfungen,
- verständliche Urteilsbegründungen,
- regelmäßige Fortbildungen für Richter,
- Gesetzesreformen, die gesellschaftliche Realitäten berücksichtigen,
- sowie stärkere Bürgerbeteiligung und alternative Streitbeilegung.
Nur wenn Gesetz und Recht im Einklang stehen, kann die Justiz ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht werden: Unrecht verhindern und Gerechtigkeit sichtbar machen.
¹ Gustav Radbruch: „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ (1946).
² Bundesverfassungsgericht, Urteil zur „Bundesnotbremse“ (19./30.11.2021).
³ OLG Karlsruhe, Beschluss zu Maskenbefreiungs-Attesten (2022).
⁴ AG Bremerhaven, Freispruch für Arzt in Verfahren wegen Masken-Attesten (2023).
⁵ LG Hechingen, Freispruch im Berufungsverfahren (2025).
⁶ Bundesarbeitsgericht, ständige Rechtsprechung: Kündigung als ultima ratio (u. a. Fall „Emmely“).
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