Ein Essay über das stille Verschwinden der Insektenwelt und unserer unbeschwerten Kindheit
Ein emotionaler Ruf zum Erinnern, Staunen und Handeln
Für uns – und für die, die nach uns kommen.
Ich sitze in meinem Garten. Es ist ein warmer Tag im Juli 2025. Der Sommer liegt über dem Land wie ein goldener Schleier. Die Stauden blühen, die Kräuter verströmen ihren Duft, die Sonne zeichnet Lichtspiele auf die alte Steinmauer. Alles wirkt wie früher – und doch ist es anders.
Ich warte. Auf das Summen. Auf das Flirren. Auf das bunte Aufblitzen eines Schmetterlingsflügels im Gegenlicht. Vergeblich. Die Luft ist still. Zu still. Und mit dieser Stille kommt ein Gefühl, das tiefer reicht als der bloße Eindruck eines fehlenden Geräusches. Es ist eine Leere, die etwas in mir aufreißt. Eine Art Verlust, die nicht laut, aber dafür umso schwerer ist.
Ich erinnere mich. An meine Kindheit, an die 50er- und 60er-Jahre. An endlose Sommertage, die nach frischem Heu und warmem Asphalt rochen. An das tiefe Brummen der Hummeln und das Summen der Bienen, die sich in den blühenden Sträuchern unseres Gartens verloren. An das zarte, fast magische Flattern der Zitronenfalter, die wie lebendige Sonnenflecken durch die Luft tanzten.
Ich erinnere mich an die Maikäfer, die wir mit leuchtenden Augen einfingen, ihnen Namen gaben, sie in Pappschachteln setzten – nicht aus Besitz, sondern aus Staunen.
Und ich erinnere mich an jene Nachmittage, an denen das Leben einfach begann, sobald die Schultasche in die Ecke flog. Ohne Aufsicht. Ohne Plan. Ohne Terminkalender.
Wir waren frei – frei zu streifen, zu träumen, zu entdecken.
Wir bauten Staudämme in dem kleinen Bach am Waldrand, errichteten Baumhütten in geheimen Winkeln des Waldes, spielten Fußball auf der Wiese am Rand der Siedlung – bis das Abendlicht uns heimrief.
Und ich denke – und ich fühle: Wie arm ist die Kindheit von heute. Ich sehe Stundenpläne ohne Atempausen, Freizeit, durchgetaktet wie der Kalender eines Managers. Ich sehe Kinder, die scheinbar alles dürfen – außer sich selbst entfalten, sie selber sein, einfach nur Kind sein.
Ich sehe Kindheit, die keine Freiheit kennt. Nicht im Spiel. Nicht im Lernen. Nicht im sozialen Miteinander. Nicht in der wilden Entdeckung der Welt. Nicht im Scheitern und Wiederaufstehen. Nicht im Sich-Verlieren und Wiederfinden.
Eine Kindheit ohne Dreck unter den Fingernägeln. Ohne echte Abenteuer. Ohne Insekten auf der Haut und Wind in den Haaren.
Was bleibt, ist ein Kinderzimmer voller Plastikspielzeug, ein Bildschirm, der die Welt ersetzt, und ein durchgetakteter Alltag, in dem das freie Spiel zur pädagogischen Übung wird.
Was bleibt, ist eine Generation, die alles hat – aber nicht mehr weiß, wie sich Leben anfühlt.
Wenn wir damals im Auto unterwegs waren, waren die Windschutzscheiben nach wenigen Kilometern übersät mit Insektenleibern – ein selbstverständliches Zeichen dafür, dass das Leben da draußen pulste, wimmelte, atmete.
Es war da – dieses Leben. Überall. Es summte, brummte, flatterte, leuchtete.
Und wir waren ein Teil davon. Mitten drin.
Heute ist dieses Leben verschwunden. Und mit ihm das unbeschwerte Kinderlachen, das einst mit den Schmetterlingen durch die Luft flog.
Nicht mit einem Knall, nicht mit einer Katastrophe, nicht mit Sirenen und Schlagzeilen.
Sondern leise. Fast unmerklich.
Und genau deshalb so erschütternd. So beunruhigend. So tief traurig.
Ein schleichender Tod
Die Wissenschaft kennt die Zahlen. Eine Langzeitstudie des Entomologischen Vereins Krefeld belegte bereits 2017 den dramatischen Rückgang der Insektenbiomasse – über 75 Prozent weniger fliegende Insekten innerhalb von nur 27 Jahren, selbst in Schutzgebieten. In Bayern sind über 60 Prozent der Tagfalterarten gefährdet oder bereits verschwunden. Der Kleine Fuchs, das Tagpfauenauge – einst allgegenwärtig – sind heute seltene Gäste.
Doch diese Daten sind mehr als nur Statistik. Sie sind ein Abgesang auf eine Welt, die einmal war. Und sie betreffen nicht nur Biologen, Naturschützer oder politische Gremien. Sie betreffen uns alle. Denn mit dem Verschwinden der Insekten stirbt auch ein Teil unserer eigenen Geschichte, unserer Kultur, unseres inneren Bildes von Natur und Leben.
Warum?
Weil wir aufgeräumt haben. Weil wir Ordnung wollten, Effizienz, Kontrolle.
Weil Wiesen gemäht, Hecken gestutzt, Brachen beseitigt, „Unkraut“ vergiftet wurde.
Weil wir aus lebendigen Landschaften Agrarwüsten gemacht haben.
Weil Lichtverschmutzung die Nacht zerstört hat.
Weil Beton und Asphalt Tag für Tag Lebensräume versiegeln.
Und immer war es unser Handeln. Oder unser Unterlassen.
Das stille Sterben – und unser Verstummen
Es ist nicht nur das Fehlen von Tieren. Es ist das Verstummen einer ganzen Sprache, einer Sprache die wir als Kinder noch gelernt und verstanden haben. Die Sprache der Natur, die leise ist, aber voller Bedeutung. Ein Summen, das uns einst ankam wie ein alter Freund. Ein Flügelschlag, der uns zeigte, dass alles noch im Gleichgewicht war.
Jetzt herrscht Stille. Und diese Stille ist gefährlich. Denn man gewöhnt sich daran. Man lernt, sie nicht mehr zu vermissen. Und irgendwann wird man sie nicht einmal mehr bemerken.
Heute wachsen Kinder auf zwischen Mährobotern, Steingärten und sterilen Grünflächen, in denen kein Insekt mehr Nahrung findet. Was für uns lebendige Erinnerung ist, ist für sie Fiktion. Sie laufen nicht mehr barfuß durch summende Wiesen. Sie beobachten keine Raupen, die sich verpuppen. Sie fangen keine Maikäfer, um sie mit leuchtenden Augen wieder freizulassen. Ihre Welt ist ordentlich – aber still. Was bleibt, sind Bilder in Schulbüchern und künstlich angelegte Erlebnisparks. Der Rest: ausgelöscht.
Und mit jeder verlorenen Art verschwindet ein Stück Kindheit – nicht nur unsere, sondern die der nächsten Generation.
Artenvielfalt – ein kulturelles Erbe
Ein Schmetterling ist nicht nur ein Insekt. Er ist Symbol. Metapher. Kindheitsfreund. Poesie.
Er ist lebendiger Ausdruck dessen, was wir einst als „Natur“ kannten.
Sein Tanz in der Luft ist kein technischer Vorgang – er ist ein kleines Wunder.
Wenn wir ihn verlieren, verlieren wir mehr als eine Art. Wir verlieren eine Verbindung. Einen Teil unserer Seele.
Artenvielfalt ist nicht nur ein biologisches Konzept. Sie ist gelebte Kultur. Ein Schatz, den wir von Generation zu Generation weitergegeben haben – nicht als Besitz, sondern als lebendige Erfahrung. Und nun sind wir im Begriff, ihn zu verspielen.
Was bleibt? Der Widerstand des Herzens.
Noch flattert manchmal ein Tagpfauenauge durch mein Beet. Noch höre ich das tiefe Brummen einer Hummel, wenn die Glockenblumen blühen. Und jedes Mal ist es ein Fest. Ein Trost. Ein Hoffnungszeichen.
Denn jeder wilde Gartenrand, jede nicht gemähte Wiese, jede stehen gelassene Brennnessel ist ein kleiner Akt der Rebellion. Ein leiser Protest gegen die Verarmung, die wir selbst geschaffen haben. Und ein Bekenntnis: Dass wir nicht aufgeben wollen.
Ich lasse meinen Garten leben. Ich dulde das Wilde, das Unordentliche, das Unvorhersehbare. Und ich werde reich beschenkt. Mit Rotkehlchen, die im Frühling singen. Mit Eichhörnchen, die über den Zaun turnen. Mit Bienen, die sich an wilden Malven laben. Es ist nicht die perfekte Ordnung, die zählt – es ist das Leben selbst, das Raum braucht.
Und vielleicht, ja vielleicht, kommen sie eines Tages zurück: der Admiral, der Kleine Fuchs, der Aurorafalter. Vielleicht fliegt ein Kind wieder staunend einem Zitronenfalter hinterher – nicht in einem Museum, sondern im eigenen Garten.
Ein Vermächtnis – für die, die nach uns kommen
Wenn wir heute nicht handeln, wird man uns morgen fragen: Warum habt ihr nichts getan, als der Sommer verstummte?
Nachwort Dieser Text ist kein Nachruf. Er ist ein Aufruf. Zum Erinnern. Zum Staunen. Zum Tun.
Artenvielfalt ist kein Luxus, keine Fußnote. Sie ist Herz und Gedächtnis unserer Welt. Und ihr Schutz beginnt nicht in Brüssel oder Berlin – sondern in deinem Garten, auf deinem Balkon, an deinem Straßenrand.
Wo Leben wachsen darf, blüht auch Hoffnung.
Für uns – und für die, die nach uns kommen.
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