Deglobalisierung als struktureller Wendepunkt der Weltwirtschaft

Deglobalisierung ist längst keine Theorie mehr, sondern ein globaler Trend, der sich seit gut anderthalb Jahrzehnten beschleunigt. Die Phase ungebremster Offenheit, in der Handel, Kapital und Technologie nahezu grenzenlos flossen, war ein historischer Ausnahmezustand. Dieser Ausnahmezustand endet. Die Weltwirtschaft zieht sich zurück, Lieferketten werden neu geordnet, Handelskonflikte nehmen zu, und wirtschaftliche Kooperation wird zunehmend durch geopolitische Rivalität ersetzt. Daten des Internationalen Währungsfonds zeigen, dass der Welthandel seit der Finanzkrise 2008 nur noch halb so schnell wächst wie in den zwei Jahrzehnten zuvor (Quelle: IWF, „World Economic Outlook“, https://www.imf.org/en/Publications/WEO).
Diese Entwicklung hat mehrere Ursachen. Die globale Finanzkrise erschütterte das Vertrauen in das liberale Wirtschaftsmodell. Der Handelskonflikt zwischen den USA und China ab 2016 institutionalisiert wirtschaftliche Konfrontation als geopolitisches Instrument. Die Pandemie schließlich legte offen, wie fragil internationale Lieferketten sein können. Aus dieser Folge von Schocks entstand ein politischer Reflex: wirtschaftliche Sicherheit vor Effizienz, nationale Kontrolle vor globaler Vernetzung, Risikoabsorption statt Wettbewerbsvorteil.
Das Resultat ist eine weltwirtschaftliche Verlangsamung, die der Economist bereits 2019 als „Slowbalisation“ bezeichnete (Quelle: The Economist, „The steam has gone out of globalisation“, https://www.economist.com/). Doch Slowbalisation ist mehr als ein verlangsamt wachsender Welthandel. Sie ist eine strukturelle Verschiebung, die Weltmärkte fragmentiert, Investitionen hemmt und Produktivität dämpft.
Warum die Globalisierung so viel Wohlstand geschaffen hat
Über Jahrzehnte war Globalisierung der wichtigste Motor für Wachstum, insbesondere für Entwicklungsländer. Die Weltbank geht davon aus, dass der offene Handel seit 1990 über eine Milliarde Menschen aus extremer Armut befreit hat – vor allem in Asien (Quelle: Weltbank, „Poverty Overview“, https://www.worldbank.org/en/topic/poverty/overview). Auch in Industrieländern brachte die Integration in globale Märkte klare Vorteile: niedrigere Preise durch Wettbewerb, größeren technologischen Austausch, Skaleneffekte, Spezialisierung und eine wesentlich größere Gütervielfalt.
Mit anderen Worten: Wohlstand war nicht die Folge politischer Programme, sondern das Ergebnis offener Märkte. Der Nobelpreisträger Paul Krugman brachte dies früh auf den Punkt: „Handel ist keine Nullsummenlogik, sondern ein Instrument, das beide Seiten reicher macht, wenn die Regeln stabil bleiben“ (Original: New York Times Archive, https://www.nytimes.com/column/paul-krugman).
Doch die Regeln sind heute weniger stabil.
Wenn Staaten Handelspolitik zunehmend instrumentalisieren, wenn Sanktionen, Exportkontrollen und Zölle strategische Währungen der Außenpolitik werden, verkehrt sich der Wohlstandsmechanismus. Handel wird riskanter, teurer und unplanbarer. Unternehmen agieren vorsichtiger, Investitionen werden zurückgestellt. Die Weltwirtschaft reagiert darauf nicht mit Resilienz, sondern mit Schwäche.
Die messbaren Folgen einer fragmentierten Welt
Die wirtschaftlichen Kosten der Deglobalisierung sind längst sichtbar und gut dokumentiert. Studien des IWF zeigen, dass eine harte geopolitische Blockbildung – also eine Welt, die sich klar in US- und China-geführte Einflusszonen aufteilt – das globale BIP langfristig um bis zu sieben Prozent senken könnte (Quelle: IWF, „Geoeconomic Fragmentation and the Future of Multilateralism“, https://www.imf.org/en/Publications/). Das wäre ein wirtschaftlicher Schaden, der größer wäre als die globale Finanzkrise 2008.
OECD-Analysen untermauern diese Sorge und zeigen, dass ausländische Direktinvestitionen (FDI) seit 2018 strukturell zurückgehen – ein frühes Indiz, dass Unternehmen ihre globalen Engagements zurückfahren (Quelle: OECD FDI statistics, https://www.oecd.org/investment/statistics.htm).
Der Welthandel selbst wächst nur noch in Zeitlupe. Während er zwischen 1990 und 2007 mehr als doppelt so schnell wuchs wie das globale BIP, liegt er seit 2010 etwa auf gleicher Höhe oder darunter. Das McKinsey Global Institute schätzt, dass die Intensität globaler Lieferketten heute rund 5–10 % niedriger ist als vor 15 Jahren (Quelle: McKinsey, „Risk, resilience, and rebalancing in global value chains“, https://www.mckinsey.com/).
Diese Verlangsamung ist keine konjunkturelle Delle, sondern eine strukturelle Trendwende.
Deglobalisierung und die politisch verursachte Standortschwäche Europas
Während die USA dank niedriger Energiepreise und massiver Industrieanreize (Inflation Reduction Act) attraktiv bleiben und China weiterhin mit planwirtschaftlichen Instrumenten strategische Industrien stützt, steht Europa zwischen den Stühlen: geopolitisch abhängig, energiepolitisch verwundbar und wirtschaftspolitisch zunehmend reguliert.
Die Europäische Union hat sich zu den ambitioniertesten CO₂-Zielen der Welt verpflichtet. Doch ihre Regulierungstiefe ist global nahezu einzigartig. Unternehmen müssen parallel Klimaregeln, Taxonomie-Vorschriften, Nachhaltigkeitsberichte (CSRD), Lieferkettenkontrollen (LkSG) und strenge Beihilferegeln erfüllen. Die DIHK bezeichnet Bürokratie seit Jahren als „Standortkiller Nummer eins“. 2024 erreichte der Bürokratieindex des Instituts der deutschen Wirtschaft den höchsten Wert seit Beginn der Erhebung (Quelle: IW Bürokratieindex, https://www.iwkoeln.de/).
In einer fragiler werdenden Weltwirtschaft müsste Europa eigentlich Entlastung, Flexibilisierung und Planungssicherheit bieten. Stattdessen erfolgt das Gegenteil: eine Überlagerung globaler Schocks mit hausgemachten Barrieren. Deglobalisierung wird dadurch nicht abgefedert, sondern verstärkt.
Deutschlands energiepolitische Besonderheit – teurer Strom, teure Industrie
Deutschland ist das Musterbeispiel dafür, wie externe Schocks und interne Entscheidungen sich gegenseitig potenzieren können. Industriestrompreise sind in Deutschland im internationalen Vergleich extrem hoch. Laut Eurostat lagen sie 2023 für industrielle Großkunden um ein Vielfaches über denen der USA und teilweise auch über denen vieler asiatischer Standorte (Quelle: Eurostat Energy Price Statistics, https://ec.europa.eu/eurostat).
Der Ausstieg aus Kernenergie, Kohle und russischem Pipelinegas wurde energiepolitisch mit Klimaneutralität und Versorgungssicherheit begründet. In der Realität entstanden drastisch höhere Preise, geringere Netzstabilität und eine Energieversorgung, die für die energieintensiven Industrien zu einem Standortrisiko wurde.
BASF kündigte bereits 2023 an, einen großen Teil seiner Chemieproduktion nach China zu verlagern und Tausende Arbeitsplätze in Ludwigshafen abzubauen (Quelle: Handelsblatt, „BASF verlagert Produktion nach China“, https://www.handelsblatt.com/). Lanxess, Aurubis, ArcelorMittal und weitere Unternehmen haben ähnliche Maßnahmen angekündigt.
Diese Strukturveränderungen sind keine temporären Effekte, sondern Anzeichen eines tiefgreifenden Deindustrialisierungsprozesses, der die Wettbewerbsfähigkeit langfristig untergräbt.
Lieferketten zwischen Risikoabsicherung und Effizienzverlust
Dass Lieferketten nach der Pandemie neu gedacht werden, ist ökonomisch sinnvoll. „Just-in-Time“ wird zunehmend durch „Just-in-Case“ ergänzt – etwas, das McKinsey und IWF bereits 2021 vorhergesagt haben. Doch diese Umstellung kostet Geld, Lagerflächen und Investitionen. Unternehmen diversifizieren ihre Lieferanten, verlagern Teile der Produktion oder stocken Lager auf. Diese Maßnahmen erhöhen langfristig die Resilienz, reduzieren aber kurzfristig die Produktivität.
Dazu passt eine zentrale Warnung des ehemaligen IWF-Chefökonomen Maurice Obstfeld. Er argumentiert, dass eine fragmentierte Weltwirtschaft große Herausforderungen wie Klimawandel oder Ernährungssicherheit nicht effizient lösen könne, da globale Koordination nahezu unmöglich werde (Quelle: Maurice Obstfeld, Vortrag 2022, University of California, https://eml.berkeley.edu/~obstfeld/).
Globale Probleme verlangen globale Märkte – Deglobalisierung schafft jedoch regionale Inseln.
Der institutionelle Zerfall: Eine Welt ohne funktionierende WTO
Ein zentrales Fundament der Globalisierung war jahrzehntelang die Welthandelsorganisation (WTO). Doch seit die USA seit 2019 die Neubesetzung des Berufungsgremiums blockieren, ist die WTO in zentralen Bereichen handlungsunfähig. Streitfälle können nicht mehr endgültig entschieden werden. Das führt dazu, dass Länder Handelsverstöße riskieren können, ohne Sanktionen befürchten zu müssen.
Die WTO selbst warnt vor einer „Erosion des regelbasierten Handelssystems“ (Quelle: WTO Annual Report, https://www.wto.org). In einer Welt, in der Wirtschaftspolitik zunehmend geopolitisch motiviert ist, erhöht die Abwesenheit eines effektiven Schiedsgerichtes die Unsicherheit für Unternehmen erheblich.
Der Druck auf Entwicklungsländer – die unerwarteten Verlierer der Deglobalisierung
In vielen Entwicklungsländern war Globalisierung der zentrale Wachstumspfad. Exportorientierung ermöglichte Investitionen, technologische Übernahme und Deviseneinnahmen. Wenn nun die großen Volkswirtschaften wieder stärker auf Autarkie setzen, verlieren diese Länder ihre wichtigste Aufstiegschance.
Die Weltbank warnt, dass anhaltende Deglobalisierung zu einer „dramatischen Verlangsamung der globalen Armutsreduktion“ führen könnte (Quelle: Weltbank, „Poverty and Shared Prosperity Report“, https://www.worldbank.org/en/publication/poverty-and-shared-prosperity). Offenheit ist kein moralisches Projekt, sondern ein entwicklungsökonomischer Imperativ.
Die politisch forcierten Standortverluste Europas: Deglobalisierung trifft auf hausgemachte Deindustrialisierung
Energiepreise als strategischer Wettbewerbsfaktor
Die Deglobalisierung verstärkt globale Unsicherheiten, doch in Europa – und besonders in Deutschland – trifft sie auf eine Industrie, die bereits durch hohe strukturelle Belastungen geschwächt wurde. Die energiepolitischen Entscheidungen der vergangenen Jahre haben die Produktion verteuert, die Planbarkeit reduziert und die internationale Wettbewerbsposition strategischer Industrien beschädigt. Die energieintensiven Branchen – Chemie, Stahl, Metallverarbeitung, Glas und Papier – tragen traditionell erheblich zur Wertschöpfung Europas bei. Ihre Konkurrenzfähigkeit hängt entscheidend von zuverlässiger und bezahlbarer Energie ab.
Eurostat-Daten zeigen, dass industrielle Großkunden in Deutschland 2023 im Durchschnitt mehr als doppelt so viel für Strom zahlten wie vergleichbare Unternehmen in Frankreich und teilweise viermal so viel wie in den USA (Quelle: Eurostat, Energy Price Statistics, https://ec.europa.eu/eurostat). Der Preisvorteil amerikanischer Unternehmen basiert auf der Schiefergasrevolution sowie einer weniger komplexen Regulierungslandschaft. Chinesische Hersteller profitieren von staatlich kontrollierten Energiepreisen und massiver Industriesubventionierung. Deutschland hingegen kämpft mit einem Strommarkt, der durch Netzentgelte, Umlagen, CO₂-Kosten und die politisch gewollte Abschaltung grundlastfähiger Kraftwerke strukturell verteuert wurde.
Die Folgen sind sichtbar. BASF kündigte im Februar 2023 an, Teile seines Stammwerks in Ludwigshafen zu schließen und den Schwerpunkt neuer Investitionen in China zu setzen. Der Vorstandsvorsitzende Martin Brudermüller begründete dies offen mit „strukturell zu hohen Energiekosten in Deutschland“ (Quelle: Handelsblatt, https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/basf-kuenftige-investitionen-in-china/). Auch Aurubis, Lanxess, Continental und mehrere Stahlproduzenten meldeten im Laufe des Jahres Produktionsrückgänge oder Standortverlagerungen. In einer Welt, die ohnehin fragmentierter wird, verliert Europa mit jeder Produktionslinie, die abwandert, ein Stück strategischer Autonomie.
Bürokratische Komplexität als Investitionsbremse
Parallel zur Energiepreiskrise entwickelte sich eine zweite große Belastung: Überbürokratisierung. Die EU verfolgt mit der Taxonomie, dem Lieferkettengesetz, der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) und weiteren Regularien das Ziel, nachhaltige Wirtschaftsstrukturen zu etablieren. Doch die Umsetzung dieser Regeln ist für viele Unternehmen schwer kalkulierbar und mit enormen Dokumentationspflichten verbunden. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) identifiziert Bürokratie seit Jahren als das meistgenannte Investitionshemmnis unter deutschen Unternehmen (Quelle: DIHK Unternehmensumfrage 2023, https://www.dihk.de/umfragen).
Der Bürokratieindex des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt zudem, dass die Belastung der Wirtschaft seit 2020 kontinuierlich steigt und 2023 den höchsten jemals gemessenen Wert erreichte (Quelle: IW Köln, Bürokratieindex, https://www.iwkoeln.de). Besonders für mittelständische Betriebe werden Compliance-Anforderungen zunehmend existenzielle Kostenfaktoren. In einer Phase globaler Unsicherheit wäre Flexibilität entscheidend – doch Europa hat sich für eine Strategie entschieden, die Unternehmen bindet, statt sie zu entlasten.
Insolvenzen und Investitionsschwäche als Warnsignal
Die ökonomischen Konsequenzen dieser Entwicklung sind messbar. Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland stieg 2023 laut Statistischem Bundesamt um über 22 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (Quelle: destatis, https://www.destatis.de). Für 2024 prognostizieren sowohl das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) als auch das Kreditversicherungsunternehmen Allianz Trade einen weiteren deutlichen Anstieg, insbesondere in energieintensiven Branchen. Dieser Trend zeigt nicht kurzfristige Schwankungen, sondern strukturelle Schwächen.
Gleichzeitig sinkt die Investitionsbereitschaft. Laut KfW-Investitionsmonitor 2023 investierten deutsche Unternehmen real fast 10 Prozent weniger als noch 2018 – trotz steigender Gewinne (Quelle: KfW Research, https://www.kfw.de). Planungsunsicherheit, hohe Energiepreise, wachsender regulatorischer Aufwand und eine fragile globale Wirtschaftslage führen zu kapitaler Zurückhaltung. Diese Investitionslücke schwächt langfristig Produktivität und Wachstum – zwei Faktoren, die Deglobalisierung bereits unter Druck setzt.
Reale Einkommensverluste: Wenn Inflation Wohlstand frisst
Während Unternehmen unter Produktionskosten leiden, hat die Bevölkerung mit realen Einkommensverlusten zu kämpfen. Die deutschen Reallöhne sanken zwischen 2021 und 2023 um kumuliert fast 7 Prozent – der stärkste Rückgang seit den 1950er-Jahren (Quelle: destatis, Reallohnindex, https://www.destatis.de). Treiber dieser Entwicklung war vor allem die Energiepreis-bedingte Inflation, die in Deutschland zeitweise über 10 Prozent lag. Während die USA ihre Inflation durch Energieautarkie und steuerliche Entlastungen schneller bremsen konnten, wurde die Inflationsbekämpfung in Deutschland durch zusätzliche Abgaben wie CO₂-Zertifikate und erhöhte Netzentgelte erschwert.
Diese Kaufkraftverluste belasten nicht nur die Haushalte, sondern auch die Binnenwirtschaft. Unternehmen können steigende Kosten weniger gut auf Konsumenten überwälzen, was ihre Margen drückt und Investitionen weiter verzögert. Deutschland verliert damit nicht nur Wettbewerbsfähigkeit nach außen, sondern auch wirtschaftliche Stabilität nach innen.
weiterführend: https://freiheitskompass.info/globale-schuldenkrise-2025
Strategische Fehlentscheidungen in der Außenwirtschaftspolitik
Die Abhängigkeit von russischem Gas wurde jahrzehntelang unterschätzt. Der schlagartige Importstopp war sicherheitspolitisch nachvollziehbar, aber ökonomisch folgenschwer. Der Ersatz durch LNG führte zu dauerhaft höheren Energiepreisen, während der Ausbau der Infrastruktur nur schleppend vorankam. Gleichzeitig blieb Deutschland beim Ausbau alternativer Pipelines und bei langfristigen Lieferverträgen zögerlich. Dies führte zu Unsicherheit und belastete energieintensive Unternehmen, die langfristige Planung brauchen.
Auch die Haltung gegenüber China ist inkonsistent. Einerseits warnt die Bundesregierung vor Abhängigkeiten, andererseits fehlen klare industriepolitische Alternativen. Die „China-Strategie“ der Bundesregierung von 2023 benennt Risiken, setzt aber kaum umsetzbare Maßnahmen durch (Quelle: Bundesregierung, China-Strategie 2023). Unternehmen beklagen, dass sie zwischen geopolitischen Warnungen und marktwirtschaftlichem Druck eingebunden werden, ohne klare Leitlinien zu erhalten. In einer Welt, in der Deglobalisierung politische Klarheit erfordert, herrscht in Deutschland Unsicherheit.
Doppelter Strukturbruch: Deglobalisierung und politisch erzeugte Standortnachteile
Wenn externe Schocks auf interne Schwächen treffen, entsteht ein doppelter Strukturbruch. Deglobalisierung reduziert Effizienz, erhöht Kosten und fragmentiert Märkte. Zugleich steigern europäische und deutsche Regulierungen Produktionskosten, Investitionsrisiken und bürokratische Belastungen. Diese beiden Entwicklungen verstärken sich gegenseitig. Die Folge ist ein Verlust internationaler Wettbewerbsfähigkeit, der sich inzwischen in nahezu allen Kennzahlen ablesen lässt: schwache Investitionen, steigende Insolvenzen, sinkende Reallöhne, abwandernde Produktion, schrumpfende Exporte in energieintensiven Branchen.
Der ehemalige Chefvolkswirt der EZB, Jürgen Stark, warnte bereits 2022, dass Deutschland Gefahr laufe, „sein industrielles Fundament zu verlieren“, wenn Energiepolitik und Standortbedingungen nicht fundamental überdacht würden (Quelle: Interview in der NZZ, https://www.nzz.ch). Die OECD formulierte 2023 in ihrer Länderstudie zu Deutschland eine ähnliche Warnung und hob hervor, dass die Standortnachteile strukturell und nicht zyklisch seien (Quelle: OECD Economic Survey Germany, https://www.oecd.org/economy/germany-economic-snapshot).
Produktivität, Innovation und technologische Fragmentierung
Parallel zu den europäischen Herausforderungen verändert die Deglobalisierung die technologischen Grundlagen globaler Märkte. Einer der größten Vorteile der Globalisierung war stets die internationale Diffusion von Wissen. Patente, Forschungsnetzwerke, Branchenstandards und der Austausch zwischen Universitäten und Unternehmen sorgten dafür, dass Innovationen schnell in globalen Märkten wirksam wurden. Dieser Austausch droht zu erodieren.
Das McKinsey Global Institute zeigte 2022, dass eine fragmentierte Welt zu parallelen technologischen Ökosystemen führen könnte, insbesondere bei Halbleitern, künstlicher Intelligenz und grünen Technologien (Quelle: McKinsey Technology Report 2022). Parallelstrukturen bedeuten doppelte Kosten, langsamere Innovationszyklen und höhere Markteintrittsbarrieren – ein Risiko, das besonders Europa betrifft, da es weniger stark über eigene Technologieplattformen verfügt als die USA oder China.
Industriepolitik: Ambitioniert, teuer und oft wirkungslos
Als Gegenreaktion auf Deglobalisierung und Standortschwächen erleben wir weltweit eine Renaissance der Industriepolitik. Die USA investieren Milliarden in Halbleiter und erneuerbare Energien, China verfolgt ohnehin langfristige Industriepläne, und Europa versucht nachzuziehen. Doch Industriepolitik in Europa ist kleinteilig, regulierungsgetrieben und häufig durch Beihilferecht limitiert. Projekte dauern länger, sind teurer und entfalten ihre Wirkung seltener als geplant.
Der britische Wirtschaftspublizist Martin Wolf warnte in der Financial Times mehrfach davor, dass europäische Industriepolitik Gefahr läuft, „Kosten zu sozialisieren und Gewinne zu privatisieren“, ohne strukturelle Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen (Quelle: Financial Times, https://www.ft.com/martin-wolf). Für ein innovationsgetriebenes Industriemodell bräuchte Europa vor allem geringere Energiekosten, weniger Bürokratie und schnellere Genehmigungen – nicht mehr Regulierung.
Eine intelligentere Globalisierung statt Rückzug in Autarkie
Die Globalisierung der vergangenen Jahrzehnte war nicht perfekt. Sie war mit Ungleichheit, Strukturbrüchen und politischen Spannungen verbunden. Doch die Antwort auf diese Herausforderungen ist keine Rückkehr zu Autarkie. Die Antwort ist eine intelligentere, resiliente und strategisch ausbalancierte Globalisierung. Dazu gehören Investitionen in Bildung, Technologie, Infrastruktur und einen modernen Sozialstaat, der Übergänge abfedert statt sie zu verhindern.
Europa braucht eine Globalisierung, die wirtschaftliche Offenheit mit strategischer Sicherheit verbindet. Dazu zählen diversifizierte Lieferketten, partnerschaftliche Handelsabkommen, eine reformierte WTO und eine realistische Energiepolitik, die Wettbewerbsvorteile stärkt statt sie abzuschaffen.
Welche Form von Globalisierung die Zukunft bestimmt
Die Frage ist nicht, ob Globalisierung weiter existiert. Die Frage lautet, welche Form von Globalisierung künftig dominiert: eine fragmentierte Welt, die Wohlstand verliert, oder eine vernetzte Welt, die Stabilität schafft. Die aktuelle Tendenz zur Deglobalisierung löst kein einziges strukturelles Problem, sie verstärkt sie. Und sie trifft jene Volkswirtschaften am härtesten, die durch interne Entscheidungen ohnehin geschwächt sind.
Dani Rodrik, einer der einflussreichsten Globalisierungsforscher, formulierte es treffend: „Die Frage ist nicht Globalisierung oder Deglobalisierung – sondern welche Regeln wir der internationalen Wirtschaft geben“ (Quelle: Rodrik, Harvard Kennedy School, https://www.hks.harvard.edu).
Für Europa und Deutschland ist die Antwort klar: Ohne eine Kurskorrektur in Energie-, Industrie- und Regulierungspolitik werden Deglobalisierung und interne Fehlsteuerungen das wirtschaftliche Fundament weiter aushöhlen. Stabilität, Wohlstand und technologische Souveränität sind nur erreichbar, wenn externe Herausforderungen und interne Reformen gemeinsam gedacht werden.
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